Als im Herbst 1970 eine DC-8 der Swissair von einer palästinensischen Kommandogruppe nach Jordanien entführt wurde, stürzte die Schweiz in eine veritable Staatskrise.
Während Wochen verhandelte die Landesregierung mit den Entführern über die Freilassung der Geiseln. Wie der NZZ-Journalist Marcel Gyr in seinem spannenden Buch «Schweizer Terrorjahre – das geheime Abkommen mit der PLO», das Ende Januar 2016 erschienen ist, schreibt, veranlasste kein Geringerer als der damalige Aussenminister Pierre Graber - auf dem Höhepunkt der Krise geheime Verhandlungen mit ranghohen Vertretern der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO).
Das Treffen zwischen Farouk Kaddoumi, dem Chefdiplomaten der PLO, und einer Delegation aus Bern fand in einem Genfer Hotel statt. Eingefädelt hatte das Treffen der PLO-Freund und SP-Nationalrat Jean Ziegler.
Der wichtigste Punkt des Stillhalteabkommens zwischen der Schweiz und der PLO war, dass die PLO der Schweiz zusicherte, keine weiteren Anschläge gegen Schweizer Objekte zu verüben. Im Gegenzug sollten die Berner Behörden darauf hinwirken, dass die PLO namentlich auf der internationalen Drehscheibe Genf Fuss fassen konnte.
Fakt ist, dass es nach Würenlingen und Zerqa tatsächlich keine Anschläge mehr auf Schweizer Objekte in der Schweiz gab, während andere europäische Länder, vor allem auch Deutschland, für Jahre immer wieder ins Visier des palästinensischen Terrors gerieten.
Eine Handvoll Zeitzeugen und anonyme Quellen: Der Journalist Marcel Gyr hat für sein akribisch recherchiertes Buch mit verschiedenen Zeitzeugen gesprochen. Unter anderen auch mit Walter Buser, der damals Vizekanzler war und nicht nur an über tausend Bundesratssitzungen teilgenommen hat, sondern auch während den Tagen und Nächten, an denen die Schweizer Regierung mit den Geiselnehmern in Jordanien verhandelte, zum inneren Kreis der Bundesregierung gehörte. Am Rande einer dieser vielen Sitzungen, die oft bis in die späte Nacht dauerten, habe Graber beiläufig erwähnt, dass es gewisse Kontakte mit palästinensische Kreise gebe. Dann habe Graber nachgeschoben, wer diese Kontakte eingefädelt hat: ein junger SP-Nationalrat, der damals schon umtriebige Soziologe namens Jean Ziegler.
Die Kontakte zwischen der PLO und der Schweizer Regierung wurden aber nicht nur von Buser, Ziegler und von bis anhin zwei anonymen Quellen bestätigt. Marcel Gyr besuchte auch den Chefunterhändler der PLO, Farouk Kaddoumi, in seinem Exil in Tunis, wo der «Falke im Diplomatenanzug» das Treffen in Genf gegenüber Gyr bestätigte. «Wir wurden von einer Delegation aus Bern empfangen. Das waren einige Leute. An Namen kann ich mich nicht erinnern. Verstehen Sie, ich war für die PLO 30 Jahre lang auf der ganzen Welt unterwegs, ich habe viele Hände geschüttelt», schreibt Gyr in seinem Buch.
Vom Genfer Stillhalteabkommen existiert vermutlich kein schriftliches Dokument. Für die Beteiligten war das heimliche Treffen mit dem PLO-Chefunterhändler hinter dem Rücken des Sonderstabs zu riskant. Wären die geheimen Verhandlungen aufgeflogen, hätte das in der Schweiz wohl das sofortige Karriereende der Verantwortlichen, allen voran Aussenminister Pierre Graber bedeutet. Und auch international hätten die Beziehungen zu Israel, sowie zu den Mitgliedstaaten des Berner Sonderstabs – USA, Grossbritannien und BRD – massiv gelitten.
Soweit die These von Marcel Gyr, dass es ein Stillhalteabkommen mit der Schweiz gegeben hat. Dass er mit seiner gewagten Theorie in ein Wespennestgestochen hat, war ihm klar, doch was nach der Veröffentlichung des Buches vor allem der «Tages-Anzeiger» lancierte, damit konnte niemand rechnen. Bald wurde es zu einem gehässigen Zeitungskrieg zwischen der «NZZ» und dem «Tages-Anzeiger». Quintessenz der Berichterstattung des Tagis war, das Buch nicht nur in der Luft zu zerpflücken, sondern die These Gyrs als falsch und unglaubwürdig hinzustellen.
Der «Tages-Anzeiger» bot in der Folge fast jedem selbsternannten Zeitzeugen, Historiker oder angeblichem Fachmann eine Plattform. Insbesondere der Staatshistoriker Sacha Zala meldete sich immer wieder mit seiner Einschätzung zu Wort, wonach ein geheimer Deal mit der PLO nicht plausibel sei. Eine Handvoll weiterer Historiker, die gegenteiliger Ansicht sind, erhielten bis heute in der Öffentlichkeit kaum Gehör. Dazu zählt etwa der Hamburger Politwissenschaftler Wolfgang Kraushaar oder der Schweizer Zeithistoriker Jonathan Kreutner. Sie alle sind der Meinung, ein solches Abkommen sehr wohl plausibel sei und sich bestens in die damalige internationale Diplomatie einordnen lasse.