Der Presserat pfeift den «Tages-Anzeiger» zurück. Die Zeitung hatte die Falschaussage einer Expertin tel quel übernommen. Der Fall wirft die Frage auf, inwiefern Journalisten auch Aussagen von glaubwürdigen Experten auf ihren Wahrheitsgehalt hin abklopfen müssen.
Unter dem Titel «Zeugen Jehovas reissen Familien auseinander» publizierte der Tagi am 27. Juli 2015 ein Interview mit einer Projektleiterin des Vereins Infosekta. Thema der Story war vor allem der Ausschluss aus der Glaubensgemeinschaft und die Ächtung durch Familienmitglieder.
Ein ehemaliges Mitglied der Sekte beschwerte sich beim Presserat. Verschiedene Aussagen seien falsch und fänden sich so nicht in den Schriften der Zeugen Jehovas. Zudem sei die Regel, dass Vorwürfen über sexuellen Missbrauch von Kindern nur nachgegangen werde, wenn es mindestens zwei Zeugen gebe, bereits einige Monate vor Erscheinen des Artikels aufgehoben worden.
Über dies Fehlaussage der interviewten Sektenexpertin ist der «Tages-Anzeiger» nun gestolpert. Die Wahrheitspflicht, die der Berufskodex den Journalisten auferlegt, beinhalte auch die kritische Überprüfung der Quellen, «einschliesslich der Aussagen von Interviewten», präzisiert der Presserat in dem am Mittwoch veröffentlichten Urteilsschreiben.
Der Tagi-Journalist hätte zwar «grundsätzlich» von der Glaubwürdigkeit seiner Quelle ausgehen können. Die von ihm befragte Expertin gehört zur Fachstelle Infosekta, die sich seit 25 Jahren mit sektenartigen Gruppen beschäftigt und von der öffentlichen Hand und den Landeskirchen mitfinanziert wird.
Im Fall der Zwei-Zeugen-Regel bei sexuellen Übergriffen, die zum Zeitpunkt der Publikation gar nicht mehr bestand, sei aber Vorsicht geboten gewesen. «Im Interview hätte die Expertin auf diese neuere Entwicklung hinweisen oder der interviewende Journalist nachfragen müssen», urteilt das Aufsichtsgremium, ohne dies weiter zu differenzieren oder zu begründen.
Damit lässt der Presserat die Frage unbeantwortet, unter welchen Bedingungen ein Journalist einer «grundsätzlich» glaubwürdigen Expertise tatsächlich auch Glauben schenken kann oder ob er ihren Wahrheitsgehalt so oder so immer kritisch überprüfen muss. Im zweiten Fall schliesst sich die Frage an, was die Glaubwürdigkeit einer Quelle überhaupt Wert ist.