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Freitag
16.06.2023

Medien / Publizistik

Shit happens: Das Annus Horribilis, das mit dem mittlerweile gelöschten Tweet für Sibylle Berg im Februar begann, geht offenbar weiter. (Bild Screenshot Twitter)

Shit happens: Das Annus Horribilis, das mit dem mittlerweile gelöschten Tweet für Sibylle Berg im Februar begann, geht offenbar weiter. (Bild Screenshot Twitter)

«Sie hat sich mit Erich Honecker angelegt, war DDR-Kampftaucherin und hat einen fürchterlichen Autounfall überlebt. Das alles berichten Medien über Sibylle Berg. Aber stimmt das auch?» 

Die NZZ mit einer Recherche zu Berg und der Klein Report mit einer Kolumne der Medienexpertin Regula Stämpfli, die im Fall Berg die Medienmechanismen aufzeigt.

Vorzeigekinder der Kultur werden jahrzehntelang vom Feuilleton gehätschelt, bis der Fall in die Tiefe grausam wird. Dies könnte die gefeierte Starautorin Sibylle Berg erleben: 2023 scheint nicht ihr bestes Jahr zu werden.

Schon im Februar erhielt die linke Ikone einen Kratzer. Mit einem Tweet verteidigte Berg den Balletchef Marco Goecke, der der Kritikerin Wiebke Hüster von der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» (FAZ) in der Pause seines Premierenstücks tatsächlich Hundekot ins Gesicht geschmiert hatte, wie der Klein Report berichtete. Hundescheisse, die er laut Presseberichten aus dem mitgebrachten Tütchen seines Hündchens, das ihm von einer Assistentin oder einem Assistenten nachgetragen wird, entnahm.

«Überragende künstler sind ausnahmemenschen. sie dürfen nicht alles, aber – shit happens» (Originalorthographie übernommen). Goeckes Attacke als auch Bergs Verteidigung wurde zu Recht als völlig gestörtes Verhältnis von Kulturschaffenden gegenüber Kritik, ja sogar als Eingriff in die Pressefreiheit gewertet. 

Die Affäre brachte Sibylle Berg einen ersten, kritischen Spliss sogar im eigenen, linken Lager, das sie regelmässig mit gesellschaftskritischen und antifaschistischen Tweets bedient. Nun stellt die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) in einem Porträt zur Wokeness euphorisierenden Schriftstellerin ein paar unangenehme Fragen zu deren Biographie und kriegt es (laut Eigenaussage NZZ) mit Bergs Anwalt zu tun.

Dies erstaunt bei einer Frau, die pausenlos über sich und ihre Werke erzählt – erst im November 2022 war sie bei der anerkannten Technologiefolgeabschätzungs-Konferenz in Bern mit dabei, um über die Folgen des Internets zu sprechen.

Die Nähe zu Jan Böhmermann – sie wirkte bei Schulz-Böhmermann regelmässig mit und war Dauergast im «Neo Magazin Royale» – hat Sibylle Berg zum Superstar der linken Szene aufsteigen lassen. So ist es nur logisch, dass es die bürgerliche NZZ ist und nicht der «Tages-Anzeiger», die bei Sibylle Berg genauer recherchiert.

Die politische Polarisierung treibt einige Schweizer Medien zur Höchstform an: Reportagen und Recherchen gegen das verfeindete Lager sind häufiger und müssen aufgrund der gestiegenen juristischen Sensibilität auch besser dokumentiert sein. Nur, so muss der Klein Report anfügen, es ist gerade die «Neue Zürcher Zeitung» selber, die eine Abmahnungs- und Klagewut an den Tag legt, die bemerkenswert ist und oft etwas lustig anmutet.

Dafür machte die Zeitung erst kürzlich auf sich aufmerksam mit der Geschichte «Transkind»: Die NZZ hinterfragte die Story des bei Dragqueen-Lesungen für Kleinkinder wie eine Trophäe herumgereichten «Transkindes». Die Journalisten untersuchten den Hintergrund, die Eltern, insbesondere auch den Online-Handel des Vaters, der mit Pornoartikeln und BDS-Maschinerien gleichzeitig auch das Buch seines Transkindes verkauft. 

Die Polarisierung der Politik ist seit der Pandemie auch eine Polarisierung der Medien. In den eigenen Reihen wird wenig Kritisches publiziert oder reflektiert, dafür wird der politische Gegner massiv unter die Lupe genommen. Die NZZ leistet sich im Zuge ihrer Expansion nach Deutschland auch kontroverse Recherchen.

Recherchen, die deshalb umso genauer sein müssen, da gleichzeitig die Klagefreudigkeit auf allen Seiten und speziell der Recherchierten massiv zugenommen hat. Für den Qualitätsjournalismus sind dies nicht nur schlechte Nachrichten, im Gegenteil: Endlich werden Berichte nicht einander abgeschrieben, sondern müssen hart geprüft werden.

Der Fall Berg zeigt, wie sich die meisten Journalisten auf Wikipedia und auf die Erzählungen von Berg unkritisch gestützt haben, ohne auch nur einmal nachzuforschen: «Für Journalisten ergibt jede Anekdote einen Sinn», schreibt die NZZ. Anders als bei anderen prominenten Frauen – da werden Dissertation, Fussnoten und Arbeitgeber einzeln geprüft – fragte beim Superstar Berg bisher kaum jemand nach. Eine einzigartige Biografie sei deshalb bei Sibylle Berg laut NZZ entstanden, etwas, das «dabei herauskommt, wenn Journalisten, Verlagsleute und Enzyklopädisten auf eine fabulierfreudige Schriftstellerin treffen».

Es ist dies der Selfie-Journalismus («Trumpism, ein Phänomen verändert die Welt»), den sowohl Sibylle Berg als auch die über sie erzählenden Journalistinnen betreiben. Die besten Geschichten schreibt eben nicht das Leben, sondern die automatisch repetierten und mittlerweile codierten Phrasen. Sibylle Berg selber sagte laut NZZ über sich, dass sie im Umgang mit Journalisten gelernt habe, «zu faken und Lügen zu erzählen». 

Spätestens seit Donald Trump sollten alle Journalistinnen und Journalisten bei Stars und deren Stories genauer hinhören. Denn die Marketingschiene ist seit dem Fall der Mauer fast der einzige Weg, der talentierte Menschen zu Stars machen kann. Wenn es wichtiger ist, wer spricht, als das, was gesagt wird, dann ist es selbstverständlich, dass Autorinnen immer krassere Biographien vorlegen müssen, wollen sie überhaupt verlegt werden. Dies sollte Journalisten und Journalistinnen indessen nicht daran hindern, ihren Job zu machen, denn das Netz ist zwar die grösste Spinnerei und Fabuliermaschine, es ist aber gleichzeitig auch ein sehr geeignetes Wahrheitstool. 

Bergs Fall erinnert daran, dass Sprechakte eben keine Wirklichkeit abbilden, sondern Stories, Erzählungen, Fiktionen bleiben. Der neuen Generation von Journalisten und Journalistinnen sollte dies wieder einmal erklärt werden: Wer meint, das Geschlecht, die Biologie sowie die eigene Identität sei nur eine von vielen möglichen Stories, meint wohl auch, die eigene Biographie völlig unabhängig von Wahrheit und Wirklichkeit erfinden zu können. 

Doch hier zur Erinnerung: Qualitätsjournalismus hat sich an Fakten zu halten und braucht hartnäckiges Nachfragen. Es heisst ja auch nicht «fühlen, was ist», sondern «sagen, was ist». Gefühlte Wahrheiten sind in den Zeiten automatisch codierter Trends nie etwas anderes als eventuell mal gute Stories, viel öfters aber Fakes, Lügen oder Desinformation.