Bundesrat Christoph Blocher hat die Schweizer Medien am Jahreskongress des Verbands Schweizer Presse (VSP) in Lausanne zu einer kritischen Haltung aufgerufen. Die Medien sollten der Bevölkerung reinen Wein über den wahren Zustand des Landes einschenken. Es wolle niemand wahrhaben, dass die Schuldenlast die Lebensgrundlage gefährde. «Der Zeitgeist blendet dies aus», sagte Blocher. Statt dessen seien Schlagzeilen wie Totsparer oder Bildungsvernachlässiger zu lesen. «Warum schreibt niemand, dass wir uns den während 30 Jahren gewachsenen Sozialstaat nicht mehr leisten können?», fragte Blocher die Verleger. «Warum getraut sich niemand zu sagen, dass es schlecht steht?» Die Presse müsse sich fragen lassen, ob sie wirklich kritisch berichte. Wer hinterfrage denn schon die vielen Communiqués, die die Verwaltung tagtäglich in die Redaktionsstuben flattern lasse. Dabei biete doch gerade die Pressefreiheit in einem direktdemokratischen Staat alle Möglichkeiten für eine kritische Berichterstattung.
Statt solch kritischer Fragen pflegten die Medien eine uniforme Berichterstattung. Darüber sei er besorgt, sagte der Bundesrat. Ein Blick in die Geschichte zeige, dass Einheits-Meinungen zu grossen Fehlentwicklungen bis hin zur Unterdrückung der Pressefreiheit geführt hätten. Die Presse sollte sich nicht scheuen, den Common Sense zu durchbrechen. «Es gilt, viele Meinungen zuzulassen», richtete Blocher einen flammenden Appell an die Journalistinnen und Journalisten. Aufgabe des Staates sei es, die Pressefreiheit zu gewährleisten. Pressefreiheit führe zu Presse- und Meinungsvielfalt. Derzeit erfülle der Staat diese Aufgabe nur mangelhaft. Viele Medien würden vom Staat in der einen oder anderen Weise unterstützt. «Wer zahlt befiehlt!», warnte Blocher. Die Medien seien beim Schielen nach Subventionen in guter Gesellschaft von Wirtschaft und Gewerbe.
Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder, Ehrengast am Kongress der Schweizer Zeitungsverleger, ging kurz auf die Worte Blochers ein. Er habe dem Bundesrat genau zugehört. Die Lagebeschreibung entspreche jener eines Papstes vor Beginn einer neuen Reformation. Blocher mache aus seinem Herzen keine Mördergrube, sagte Schröder. Der deutsche Bundeskanzler stimmte mit Blocher darin überein, dass das Verständnis in der Gesellschaft für die anstehenden sozialpolitischen Herausforderungen wachsen müsse. Reformen seien nötig, um den Sozialstaat unter den radikal veränderten Bedingungen umzubauen. Es sei eine permanente Veränderungsbereitschaft nötig. Das müsse in die Köpfe der Menschen. Der Umbau sei schwierig, da heute Opfer zu erbringen seien, um später Erfolge erzielen zu können. Diese zeitliche Diskrepanz sei nicht einfach zu kommunizieren. Es wäre nicht gerecht, die Belastungen auf künftige Generationen zu verschieben, sagte Schröder. Er sei überzeugt, dass der Umbau trotz allem gelingen werde. Das aber brauche Zeit. Kurz äusserte sich Schröder, wie Blocher ein mediengewandter Politiker, zur Rolle der Presse. Er sprach sich dafür aus, die Privatsphäre auch von Politikern zu achten und zu beachten. Als «Koch in einer heissen Küche» zu stehen, damit müsse und könne er jedoch leben. Er habe Respekt vor der Pressefreiheit. Einzelne Ungerechtigkeiten könne er ertragen.
Anschliessend wollten Schöder und Blocher zusammen mit einigen wenigen Kongress-Teilnehmern zu einem Imbiss zu Philippe Rochat ins «Hôtel de Ville; in Crissier. Ob die Zeit bis zum Rückflug von Schröder nach Berlin zu mehr als einem Bierchen reichte, war bei Redaktionsschluss dieses Newsletters allerdings ungewiss. Sicher ist hingegen, dass VSP-Präsident Hanspeter Lebrument Michael Ringier, Hans Heinrich Coninx (Tamedia), Pierre Lamunière und einige weitere Honoratioren anschliessend im «Beau Rivage» das Abendessen einnahmen.
Samstag
18.09.2004