Die Pause nach dem Referat des Zürcher Publizistikwissenschaftsprofessors Otfried Jarren dürfte dem einen oder anderen Verleger in Thun gerade recht gekommen sein. Es war nicht eben leichte Kost, die Jarren in seinem Referat anbot: «Tageszeitungen verlieren unter Viel-Kanal-Bedingungen bei Informationsverbreitern, Werbekunden und Rezipienten gleichermassen», liess er die Anwesenden wissen. Bei den Informationsanbietern ist eine Zunahme an Organisationskommunikation (Corporate Media, Corporate Publishing) sowie an weiteren Informationsbereitstellungs- und -verbreitungsmöglichkeiten festzustellen. Bei der Werbung findet eine Erweiterung des medialen wie nichtmedialen Spektrums statt. Den Rezipienten steht ein erweitertes, flexibel und mobil nutzbares Spektrum an Medien und Angeboten zur Verfügung. Diese Faktoren haben zur Folge, dass die traditionellen Massenmedien ihre «Flaschenhalsfunktion» einbüssen.
Wie Jarren weiter ausführte, wird der Positionsverlust durch Effekte des soziokulturellen Wandels verstärkt. Die Printmedien erleiden gesellschaftlich gegenüber den elektronischen Medien und der Mobilkommunikation Einbussen. Es kommt zu «Modernitätsverlusten». Die Verluste der Printmedien an «sozialer Bindung» führt Jarren auf erhebliche Mobilitätszunahmen (Rückgang der Abonnements), widersprüchliche, volatile multikulturelle Ansprüche an Zeitungen in Einwanderungsgesellschaften sowie den partiellen Rückgang an Lesefähigkeit in der Gesamtgesellschaft zurück. Das hat zur Folge, dass die Tageszeitungen mehr und mehr, zumal wenn sie sich nicht ändern, zum Medium der etablierten, gebildeten und integrierten Inlandbevölkerung werden.
Ein wichtiges Thema sind für Jarren auch die Reichweitenverluste. «Wie andere Intermediäre der Gesellschaft auch durchdringen die mit diesen Intermediären historisch wie politisch verbundenen Zeitungen immer weniger die Gesamtgesellschaft», erklärte er den Verlegern. An Reichweite verlieren die Zeitungen, weil es ihnen nicht gelingt, neue soziale Gruppen in den mobiler werdenden (Einwanderungs-) Gesellschaften stabil zu binden. Das bleibe nicht ohne Folgen, denn Reichweitenverluste bedeuten nicht nur Auflagenverluste und ökonomische Einbussen, sondern ziehen auch einen sozioökonomischen wie soziokulturellen Bedeutungsverlust nach sich.
Nicht nur die Printmedien, sondern alle traditionellen Massenmedien unterliegen unter Viel-Kanal-Bedingungen der Notwendigkeit einer medienspezifischen Funktionsanpassung und Differenzierung insgesamt (Gattung) und in den jeweiligen Teilmärkten. Die elektronischen Massenmedien haben jedoch bereits Anpassungsprozesse einleiten müssen. Beim Radio waren dies Formatierung und Differenzierung, vor allem im Bereich der Musik und aktueller Information. Beim Fernsehen waren es Formatierung und Differenzierung nach Zielgruppensegmenten (Push-Medium). Bei den Anbietern im Internet kam es zu Community- Bildung und Optimierung der Push-Funktion durch erkennbare Anbieterstrukturen bzw. Versuche der Community-Bildung.
Mittwoch
15.06.2005