Im 19. Jahrhundert hielten die Zeitungen durch Dick und Dünn zu ihrer jeweiligen Partei. Im gegenwärtigen Wahlkampf befindet sich die «Weltwoche» im totalen Rückfall in diese längst vergangene Zeit, stellt Roger Blum fest. Nachfolgend ein Kommentar des Publizisten und emeritierten Professors für Medienwissenschaft.
Im 19. Jahrhundert waren die Zeitungen fast allesamt Parteiblätter. Weil die radikalen Freisinnigen ihre publizistische Stimme hatten, wollten auch die moderaten Freisinnigen eine, ebenso die Demokraten, die Grütlianer, die Katholisch-Konservativen, die Sozialisten. Jede Zeitung verteidigte ihre Partei durch Dick und Dünn, meist sassen die Redaktoren zugleich im Parlament oder waren Parteisekretäre. Die Argumente der politischen Gegner wurden kaum in die Spalten aufgenommen, und wenn, dann nur in polemischer Verbrämung. Wer das ganze Meinungsspektrum kennenlernen wollte, musste mehrere Zeitungen lesen.
Dies blieb auch im 20. Jahrhundert noch lange so. Zwar etablierten sich neben den Parteiblättern auch überparteiliche «Generalanzeiger» wie der «Tages-Anzeiger» oder die «Tribune de Genève», parteiunabhängige Wochenzeitungen und Boulevardzeitungen, Radio und Fernsehen. Doch erst zu Beginn der Neunzigerjahre verschwanden die letzten parteigerichteten Tageszeitungen in der Schweiz. Seither ist der Aussenpluralismus, in dem jede politische Strömung ihr eigenes Medium hat, Vergangenheit. Seither gilt der Binnenpluralismus: Die Medien bilden alle Positionen ab, behalten sich allerdings ihren Kommentar vor.
Die «Weltwoche» hingegen fällt ins 19. Jahrhundert zurück. Das zu tun, ist ihr gutes Recht. Es herrscht Pressefreiheit in der Schweiz. Doch wie sie es im gegenwärtigen Wahlkampf tut, deutet darauf hin, dass sie der Schweizerischen Volkspartei (SVP) geradezu in Nibelungentreue verfallen ist. Sie skandalisiert erstens jene Politiker, die der Ständeratsoffensive der SVP im Wege stehen. So bezichtigte sie die St. Galler Regierungspräsidentin Karin Keller-Sutter (FDP) der ungetreuen, verantwortungslosen Amtsführung (Nr. 34/11-36/11 und 41/11).
Den Zürcher Ständerat Felix Gutzwiller (FDP) empfahl sie zur Abwahl (Nr. 35/11). Die Ständeräte Claude Janiak (SP, Baselland) und Anita Fetz (SP, Basel-Stadt) sowie die Ständeratskandidaten Hans Stöckli (SP, Bern), Paul Rechsteiner (SP, St. Gallen) und Pascale Bruderer (SP, Aargau) brandmarkte sie als Wendehälse (Nr. 36/11). Die FDP Basel-Stadt, die ebenfalls einen Ständeratskandidaten stellt, diskreditierte sie quasi als Bordellpartei (Nr. 36/11).
Zweitens drischt die «Weltwoche» pausenlos auf die Feindbilder der SVP ein. Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf forderte sie zum Rücktritt auf (Nr. 37/11). Bei der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP) suchte und fand sie eine ganze Reihe von Personen mit «Dreck am Stecken» und qualifizierte die BDP als «Partei der Unanständigen» (Nr. 39/11). Auch wenn die Vorwürfe belegt sind, so stört daran, dass die «Weltwoche» bei der SVP und bei den Rechtsfreisinnigen schon grundsätzlich nicht nach Leichen im Keller sucht. Es müssen eben nur die Feindbilder der SVP skandalisiert werden. Christoph Blocher hingegen wird wie ein Heiliger verehrt.
Drittens kommt Chefredaktor Roger Köppel in seinem Editorial, das wie ein ganz einfach gestrickter Abzählvers aufgebaut ist, zum Schluss, dass nur ein paar Rechtsfreisinnige, «Spurenelemente der CVP» und die SVP wählbar seien (Nr. 41/11). In vier von fünf Themenbereichen, die er herausgreift, ist die Schlussfolgerung immer dieselbe: SVP wählen.
So wenig Differenziertheit ist selten in unserer Zeit. So viel Nibelungentreue, stramm wie im 19. Jahrhundert, irritiert bei einem Blatt, das stets die individuelle Freiheit hochhält.