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Montag
20.02.2012

Ist der Rücktritt des deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff das Ergebnis einer Sternstunde des deutschen Recherche-Journalismus? Oder wurde Wulff zum Opfer einer medialen Hetzkampagne, in deren Verlauf jegliches Augenmass verloren ging?

Rund 40 Prozent der deutschen Bevölkerung sind laut einer Umfrage der Meinung, bei der Medienberichterstattung habe es sich um eine «Hetzkampagne» gehandelt. Anders sehen dies naturgemäss die deutschen Medien selber. Am Verlust seiner Glaubwürdigkeit sei Wulff selber schuld, nicht die Medien, schreibt die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» (FAZ) in einem Kommentar vom Freitag. Journalisten seien von Wulff und dessen ehemaligem Sprecher Olaf Glaeseker oft mit «Halbwahrheiten» abgespeist worden, schreibt die FAZ weiter. Dennoch habe keine Zeitung, nicht einmal die «Bild», über ehrverletzende Gerüchte gegen die Präsidentengattin Bettina Wulff, welche in diversen Internetforen und Blogs kursierten, berichtet.

Die FAZ kritisiert im Kommentar zwar einzelne Journalisten (natürlich vor allem von direkten Konkurrenztiteln) wie das «pfauenhafte Gehabe» des «Bild»-Redakteurs Martin Heidemann, den «`Stern`-Trompeter» Hans-Ulrich Jörges oder Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der «Zeit», gelangt jedoch zum Fazit: «Es sind ohne Zweifel Pharisäer unter uns. Es gibt auch keinen Grund, zu jubeln. Doch eine Presse, die ihre Arbeit ernst nimmt, kann auf Recherchen und auf die entsprechenden Berichte und Kommentare nicht verzichten.»

Die meisten anderen deutschen Qualitätstitel mochten nach dem Rücktritt von Christian Wulff nicht mehr über ihre eigene Rolle reflektieren, sondern spekulierten lieber über mögliche Nachfolger.

Kritischer und retrospektiver schrieben hingegen die internationalen Medien. Deutliche Worte fand beispielsweise die «Neue Zürcher Zeitung»: Die Affäre um Wulff gehe als ein «unrühmliches Kapitel politischer und medialer Auseinandersetzung in Deutschland» in die Geschichte ein, schreibt Jürg Dedial in einem Kommentar vom Samstag. Und weiter: «Während draussen in der Welt Millionen um ihr Überleben kämpfen, ihr soziales Gefüge zerbrechen sehen und Seuchen, Wirbelstürme und Schlächtereien zu erdulden haben, ergehen sich die politische Klasse und die Medien in unserem Nachbarland in eitlen Balzritualen und Empörungsexerzitien in einem Fall, der an Trivialität und Biederkeit fast nicht mehr zu überbieten ist.»

Hinter dem fast täglichen Theater um neue «Enthüllungen» habe nichts anderes gesteckt als der Furor einer selbstgerechten Meute, die Blut geleckt hätte. «Und vielleicht könnten jetzt die Moralbuddhas der Medien nach geschlagener Schlacht auch einmal mit ähnlichem Drang darlegen, wie sie sich selbst vom Lockstoff all der Verlockungen und Verführungen betören lassen, denen sie als Journalisten nur allzu oft unterliegen - von Einladungen der tollsten Sorte, Reisen und Rabatten in einem Ausmass, das bei fast allen andern Erwerbszweigen die Schamröte hochtriebe», so Dedial weiter.

Man habe schon «Schlimmeres» gesehen als die Verfehlungen von Wulff, meinte die Mailänder Zeitung «Corriere della Sera», vermutlich nach einem Blick auf die eigene Innenpolitik. Allerdings müsse man bei einer Staatsführung, welche anderen europäischen Ländern in der Schuldenkrise mit «Arroganz» Lektionen in «öffentlicher Moral» erteile, auch andere Massstäbe anlegen.