Zwar hat der Schweizer Presserat eine Beschwerde gegen das «St. Galler Tagblatt» abgewiesen, der Redaktion aber einen Nasenstüber für «ungenügende Voraussicht auf die Reaktionen der Leserschaft» in einem heiklen Fall verpasst. Dies geht aus der am Freitag veröffentlichten Stellungnahme hervor. Stein des Anstosses war ein Bericht über ein Gespräch des Lehrermörders Ded Gecaj in der kosovo-albanischen Tageszeitung «Lajm». Darin hatte Gecaj die Umstände des Tötungsdelikts völlig anders dargestellt, als dies die polizeilichen Erkenntnisse ergeben hatten. So gab er an, der von ihm umgebrachte Lehrer habe seine Tochter vergewaltigt.
Gegen diesen Bericht wehrte sich der städtische Lehrerinnen- und Lehrerverband St. Gallen (SLLV), weil Gecajs Aussagen nicht in Frage gestellt und die wahren Hintergründe der Tat nicht beschrieben worden seien. Laut der Stellungnahme hält der Presserat diese Rüge für unbegründet. Der Bericht sei von öffentlichem Interesse gewesen, auch wenn die Tat einige Jahre zurückliege. Der schockierende Kriminalfall sei für die Medien aktuell gewesen, weil der Täter 2005 per Haftbefehl international ausgeschrieben gewesen sei. Zudem habe die Redaktion das Thema mit dem Abdruck von Leserbriefen nachbearbeitet und dabei zugegeben, die ausführliche Schilderung der Aussagen des Täters habe «mehr Unbehagen, ja Widerstand ausgelöst, als wir erwartet haben». Dabei räumte der Chefredaktor ein, das Thema sei «wohl doch zu wenig eingebettet» worden, und die Redaktion habe «zu wenig Mitgefühl für das Opfer und seine Angehörigen durchblicken lassen.» In diesem Punkt anerkennt der Presserat eine kleine Unebenheit, indem er eine ungenügende Voraussicht auf die Reaktionen der Leserschaft auf eine allzu täterzentrierte Berichterstattung» sieht, die aber nicht mit dem berufsethisch verpönten fehlenden Respekt gegenüber dem Leid der Betroffenen und der Gefühle ihrer Angehörigen gleichzusetzen sei. - Die Stellungnahme im Wortlaut: http://www.presserat.ch/22600.htm
Freitag
01.12.2006