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Mittwoch
19.10.2011

Mehrere Tessiner Medien arbeiteten nach Meinung des Presserats zu wenig sorgfältig, als sie im Herbst 2010 über eine mutmassliche Vergewaltigung berichteten. Wie der Presserat am Dienstag urteilte, war die identifizierende Berichterstattung durch Radiotelevisione svizzera di lingua italiana (RSI) unmittelbar nach der Verhaftung eines Arztes wegen einer ihm vorgeworfenen Vergewaltigung ebenso wenig gerechtfertigt wie die darauffolgende Benennung seiner Ehefrau als mutmassliches Opfer durch ticinonews.ch, «Il Caffè», «La Regione Ticino», den «Corriere del Ticino» und das «Giornale del Popolo».

Im September 2010 berichtete RSI an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in der Sendung «Il Quotidiano» über die Verhaftung eines Arztes wegen einer ihm vorgeworfenen Vergewaltigung. Die Website ticinonews.ch benannte daraufhin die Ehefrau als mutmassliches Opfer. Weitere Medien zogen nach. Ein Angehöriger beschwerte sich daraufhin beim Presserat über die Berichte von RSI und ein Journalist über diejenigen von ticinonews.ch, «Il Caffè», «Corriere del Ticino», «La Regione Ticino» und «Giornale del Popolo». RSI wies die Beschwerde mit dem Argument zurück, der Arzt sei wegen einer früheren, aufsehenerregenden Affäre zur öffentlichen Person geworden. Deshalb sei die Namensnennung zulässig. Ticinonews.ch und die betroffenen Zeitungen äusserten sich unterschiedlich.

Für den Presserat war die Nennung des Namens des Arztes durch RSI unmittelbar nach der Verhaftung nicht gerechtfertigt, da seine öffentliche Bekanntheit nur relativ sei und der aktuelle Fall weder in unmittelbarem Zusammenhang mit der früheren Affäre noch mit seiner beruflichen Tätigkeit stehe. Ebenso wenig sei es zu diesem Zeitpunkt notwendig gewesen, die Öffentlichkeit zu warnen. «Nachdem RSI bereits an zwei aufeinanderfolgenden Tagen identifizierend berichtet hatte, hat der Nachzieher durch die anderen Tessiner Medien hingegen kaum noch weiteren Schaden angerichtet», erklärte der Presserat.

Als verfehlt erachtet der Presserat demgegenüber die Identifizierung des Opfers durch ticinonnews.ch und diverse Zeitungen. «Auch nach der Nennung des Arztes als möglichen Täter hat der Opferschutz weiterhin Vorrang gehabt», so der Presserat. Und da die Verbreitung der fraglichen Website nicht mit derjenigen der Fernsehprogramme der RSI vergleichbar sei, hätten die anderen Medien ungeachtet des Vorpreschens von ticinonews.ch das mutmassliche Opfer nicht identifizieren dürfen.