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Montag
25.04.2022

Medien / Publizistik

Sogar die SDA titelte: «‚New York Times‘ macht Pulitzer-Preisträger zum Chefredaktor». Auch der Klein Report hatte den Topjournalisten Joe Kahn schon länger im Visier.

Joe Kahns damalige Reportage über das Justizwesen in der VR-China (zusammen mit dem Kollegen Jim Yardley), etablierte seinen Ruf als exzellenter Netzwerker und Journalist. Nach dem sensationellen Start als Chefredaktor am 19. April 2022 – selten macht ein Medien-Sesselrücken derart viele internationale Schlagzeilen –, ist Kahn einige Tage später zur Lachnummer abgestiegen.

Exklusiv für den Klein Report kommentiert die Politphilosophin Regula Stämpfli, was dessen globale Beschämung mit Gender, digitaler Transformation und Kommunikation im 21. Jahrhundert zu tun hat.

Früher hiess es «Kleider machen Leute», heute sind es Images. Der neuernannte Chefredaktor der «New York Times» hat dabei tief in die Kloschüssel gegriffen. «Paint me like one of your French girls!» titelte «Daily Mail» hämisch. Joe Kahn posiert für das «New York Magazine» in Anzug, mit Socken auf Teppich, die Zeitung liegt neben ihm, ebenso eine Billigtasse mit chinesischem Schriftzeichen.

Unter dem Bild steht: «Joe Kahn relaxing with the paper». Als neuer Chef der «New York Times» hätte Joe Kahn wissen müssen, dass er ab sofort einem ordentlichen Mass an öffentlicher Kritik ausgesetzt sein wird. In dieser Situation eine Fotostrecke abzusegnen, die ihn als Posterboy inszeniert, zeigt, wie wenig der mit vielen Preisen ausgezeichnete Journalist von digitalen Medien, Images und politphilosophischem Wandel versteht. Ein Wandel der Skandalisierung von einzelnen Worten und Bildern übrigens, die die «New York Times» selber vorantreibt.

Die «New York Times» ist DAS Leitmedium der westlichen Welt – zum grossen Ärger aller Gegner der linksliberalen Kräfte. Die «New York Times» verbindet Silicon Valley und Woke-Ideologie, gestaltet Digitalisierung, Kultur, ja die Grundpfeiler der westlichen Welt der Zukunft.

Innert zwei Jahren hat die «New York Times» hochdekorierte Journalistinnen wie beispielsweise Bari Weiss entlassen, die seitdem ihren eigenen Podcast betreibt: «Honestly», in welchem sie hochkompetente Experten:innen-Gespräche mit jeglicher politischen Couleur zum «woke internet mob» führt, unter anderem bei der «New York Times». 

Nun schlagen die Gegner dieses Informationstrends – nach dem Motto «beuge Dich jedem Twitter-Sturm» – mit denselben Waffen zurück. Ohne Kontext skandalisieren sie ein Foto, und zwar derart geschickt, dass sich Joe Kahn für dieses Bild entschuldigt, wobei er gleichzeitig jede Verantwortung ablehnt mit dem Argument, der Fotograf hätte ihn zu diesen Posen ermuntert.

Joe Kahns Bildersturz wird nachhaltig sein, da das digitale Zeitalter nie vergisst. Zudem gehören Attacken auf die Person und nicht auf deren Argument zu bewährten Kampfmitteln der Gegenwart. Jede Schmach wird perpetuiert. 

Die Affäre belegt das, was ich seit «Trumpism. Ein Phänomen verändert die Welt» sachlich feststelle: «Die Eroberung der Welt als Bild». Die Referenz zwischen Bild und Information ist im digitalen Zeitalter ebenso aufgehoben wie die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat. Seit selbst Bundesrätinnen und Bundesräte ihr jährliches Foto wie einen Klassenausflug inszenieren, ist die Trennschärfe dessen, was die Aufgabe von Politisierenden und was die Aufgabe von Stars ist, in allen westlichen Demokratien aufgehoben. Joe Kahn hätte besser beraten sein sollen, als sein öffentliches Amt – Chefredaktor der «New York Times» ist kein normaler Job – durch eine persönliche Bilderstrecke mit Verführerpose im eigenen Medium anzutreten.

Die Bilder von Joe Kahn als «Liebhaber feiner Dinge» (Zitat Interview) widersprechen eins zu eins dem, für was Joe Kahn als Chefredaktor stehen sollte.

Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zum Geschlechteraspekt der Images: In der öffentlichen Wahrnehmung gelten weibliche Posen, wenn von Männern ausgeführt, als «falsch». Es wäre ideal, wenn Joe Kahn seinen Flop genau zu diesem Thema reflektieren würde – tat er aber nicht. Die Bildfrage stellt im digitalen Zeitalter die Leerstelle, den blinden Fleck, in allen Diskussionen um den digitalen Wandel dar: Bilder sprechen nicht nur mehr als 1000 Worte, sondern «Bilder operieren wie Codes: Sie verbreiten Meinungen statt Tatsachen». 

Der «Bildersturm im digitalen Zeitalter» (Staempfli) verkörpert nämlich mehr als lächerliche Posen und deren sexistische Konnotationen.

Literaturtipps: Als Einstiegslektüre zum Bildersturm im digitalen Zeitalter empfehle ich allen meine Bestseller aus den Jahren 2007 und 2008: «Die Macht des richtigen Friseurs. Über Bilder, Medien und Frauen» und 2018/19 «Trumpism. Ein Phänomen verändert die Welt» sowie meine aktuellen «Hannah Arendt Lectures» 2022 an der HSG.