An der Jahreskonferenz des Netzwerks Recherche in Hamburg sprach der Literaturnobelpreisträger Günter Grass zur Lage des Journalismus in Deutschland.
Die Medienschaffenden müssten «den Finger in die Wunde legen, solange sie noch offen ist», sagte er. Roger Blum war vor Ort und berichtet für den Klein Report.
Eigentlich war die Rede des 83-jährigen Schriftstellers unter dem Titel «Die Steine des Sisyphos» eine vernichtende Abrechnung mit dem politisch-ökonomischen System. Grass prangerte den Lobbyismus an, der das Parlament in Geiselhaft nehme. Er geisselte die überstürzte Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland, weil dadurch eine Söldnerarmee als Staat im Staate entstehe. Er verlangte eine Karenzfrist von mindestens fünf Jahren für Politiker, die in führende Wirtschaftsfunktionen wechseln wollen. Auch der Vollzug der deutschen Einheit nach dem Massstab Westdeutschlands sei ein Sündenfall gewesen. Jetzt erlebe man eine anhaltende Ostflucht; zurück blieben vor allem die Rechtsradikalen. Der Staat, der im Würgegriff der Banken sei, zeige Ermüdungs- und Zerfallserscheinungen. Deshalb müsse man die Systemfrage stellen. Nötig seien grundlegende Reformen.
Versagt hätten auch die Medien, fügte Grass hinzu. Der Journalismus lebe von der Hand in den Mund und nehme sich nicht die Zeit, die Hintergründe aufzuhellen. Die Journalisten müssten «den Finger in die Wunde legen, solange sie noch offen ist». Sie müssten Wahrheiten erkennen und benennen. Und sie müssten sich klar sein, dass sie keine Beamtenlaufbahn eingeschlagen haben, sondern auch als Angestellte einen freien Beruf ausübten und unabhängig sein müssten.
Blender wie der ehemalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, der Zuwanderungs-Kritiker Thilo Sarrazin oder der Philosoph Peter Sloterdijk würden von den Medien hochgejubelt, solche, die nicht so gut blenden können, wie etwa der rheinland-pfälzische Ministerpräsident und frühere SPD-Vorsitzende Kurt Beck, würden von ihnen fertiggemacht. Es gebe zu viel Kampagnenjournalismus.
Günter Grass bezog sich auf Sisyphos, weil das Motto der Jahrestagung des Netzwerks Recherche in Anspielung auf Albert Camus lautete: «Sisyphos war ein glücklicher Mensch. Über:morgen. Qualitäts-Treiber Recherche.» Der Literaturnobelpreisträger schloss sich Camus an, der für den permanenten Widerspruch plädiert hatte.