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Sonntag
06.08.2006

Die ersten Tage des Filmfestivals Locarno seien geprägt von viel Weltschmerz, weniger hingegen von Filmen, die den Blick auf die Welt erweitern, schreibt der Kommentator Peter Claus von der Depeschenagentur am Sonntagmorgen. Wir vom Klein Report sind ebenfalls vor Ort vertreten und können uns dem Verdikt des sda-Journalisten nur anschliessen. Unser Kommentar wäre nicht anders ausgefallen.

Insbesondere der Wettbewerb werde dominiert von düsteren Milieuskizzen, die selten über eine Nabelschau hinausgehen. Die einzige Ausnahme bisher ist «Half Nelson» aus den USA, die Geschichte eines drogenabhängigen Lehrers, der aufgerieben wird im Konflikt zwischen dem Verlust an Selbstachtung und dem Versuch, seinen Schülern genau diese beizubringen. Dies der Kommentar von Peter Claus von der Depeschenagentur.

Der von Regisseur Ryan Fleck unsentimental inszenierte Erstlingsfilm besticht vor allem durch die Präsenz seines Hauptdarstellers Ryan Gosling. Dieser gibt der Figur des Mannes am Rande des völligen Absturzes eine selbstverständlich anmutende Authentizität und Würde. Bisher gilt er als einziger Kandidat für den Preis als bester Darsteller.

Zudem besticht der Film durch seine geradlinige Erzählweise. Auch dies ist im Wettbewerb bisher eine Seltenheit. Andere thematisch interessante Filme wie «Jimmy della collina» aus Italien über einen jugendlichen Straftäter oder das Sittenbild «Dies d’agost» aus Spanien scheitern leider an ihren nicht eingelösten formalen Ansprüchen.

Das Programm auf der Piazza Grande will der neue Locarno-Direktor Frédéric Maire offenkundig in starkem Mass als Publikumsmagnet gestalten. Darauf deutet schon die Wahl des US-Actionfilms «Miami Vice» zur Eröffnung. Wer nämlich Charme, Witz und Sexappeal der in den 1980er-Jahren weltweit erfolgreichen gleichnamigen Fernsehserie erwartete, wurde enttäuscht. Geboten wird vielmehr ein düsteres Actionspektakel, fehlbesetzt mit dem hölzernen Colin Farrell in einer der Hauptrollen. Nur die Fans kruder Gewaltorgien stört das nicht; sie fühlen sich prächtig unterhalten.

Nahezu lückenlose Zustimmung galt hingegen dem Schweizer Piazza-Film «Die Herbstzeitlosen», gedreht in Trub im Emmental und produziert vom Schweizer Fernsehen. Intelligent und liebevoll, dabei nie in billigen Stammtischwitz abgleitend, wird der Kampf eines Seniorinnen-Quartetts gegen die Dummheit der Spiessbürger erzählt. Die unter viel Beifall mit einem Spezialleoparden geehrte Stephanie Glaser sowie Annemarie Düringer, Heidi Maria Glössner und Monica Gubser bezaubern in den vier tragenden Rollen. Regisseurin Bettina Oberli verspricht nicht mehr und nicht weniger als gute Unterhaltung, und sie löst dieses Versprechen augenzwinkernd ein.

Heftig umstritten war jedoch der zweite Schweizer Piazza-Film: «La liste de Carla», eine Dokumentation über die Arbeit der UN-Chefanklägerin Carla del Ponte für das ehemalige Jugoslawien. Regisseur Marcel Schüpbach zeigt die Arbeit der Juristin und ihres Teams sehr distanziert, aber voller Mitgefühl für die Zweifel von Frauen in Ex-Jugoslawien an dieser Arbeit. Del Ponte wird dadurch auf unzulässige Weise zu so etwas wie einer Angeklagten. Andere jedoch sehen Schüpbachs Methode als einzige Möglichkeit, um die Komplexität des Themas zu spiegeln.

Ein Fauxpas des Festivals trübt die ersten Tage: Die Verleihung des «Excellence Award» an den US-Schauspieler Willem Dafoe. Der sympathische Weltstar wurde nicht so ins Rampenlicht gestellt, wie es ihm gebührte. Er erhielt zwar den Preis, aber auf der Piazza wurde kein Film von ihm gezeigt, um damit seine ausserordentliche Klasse zu belegen. Seit Jahren sprechen die Verantwortlichen immer wieder davon, mehr Stars an den Lago Maggiore locken zu wollen. So wird das nicht gelingen, meint der sda-Kommentator Peter Claus zu Recht.