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Donnerstag
20.10.2011

Im Mittelpunkt des Schweizer Dokumentarfilms «Die grosse Erbschaft» steht ein altes, leer stehendes Gebäude im Tessin. Es ist von einem Brand beschädigt und steht vor dem Abbruch. Fosco Dubini, der Zürcher Filmer mit Tessiner Wurzeln, hat die verstaubten, verrussten Räume des Hauses seiner Grosseltern durchstöbert, fast jede Vase, jede Schatulle umgedreht. Die Winkel, Relikte, die alten Fotografien erzählen Geschichten der ehemaligen Bewohner. Neben der Spurensicherung wird der Gang in die Vergangenheit zur Schatzsuche, denn die Grossmutter soll ein kleines Vermögen versteckt haben.

Fosco Dubini wird im Film zum Archäologen der Zeitgeschichte, und er wird fündig. Die Dubini-Brüder - Donatello verstarb im Frühjahr - beschreiben liebeswürdig unterhaltsam und auch etwas ironisch ein Stück Tessiner Sozialgeschichte. Sie führen eine «dokumentarische Besichtigung» durch. Ein totes Haus lebt auf, beginnt zu erzählen. Der Dokumentarfilm der Dubinis, «Die grosse Erbschaft», produziert von Cardo Dubini, läuft nun in den Kinos. Klein-Report-Filmexperte Rolf Breiner sprach mit Fosco Dubini, der gemeinsam mit seinem Bruder Donatello für Regie, Kamera und Schnitt verantwortlich war.

Sie haben mit Ihrem Film eine kleine Tour de Suisse von Bern über Zürich bis Winterthur hinter sich? Wie war die Resonanz an den Vorpremieren?
Fosco Dubini: «Unterschiedlich. In Luzern und Winterthur waren einige Tessiner und Italiener dabei und fanden sich bestätigt, erzählten von ihren eigenen Erfahrungen. Der Film löst Erinnerungen aus. Der Reminiszenzeffekt ist deutlich spürbar.»

Fast wie ein Archäologe erforschen Sie das abgebrannte Haus Ihrer Grosseltern in Lodrino bei Bellinzona. Wie sind Sie mit all den Erinnerungsstücken umgegangen?
Dubini: «Ich konnte diese Dinge nicht einfach wegschmeissen - ein Reflex. Ich habe heute noch zwölf Umzugskartons im Tessin eingelagert - inklusive Kronleuchter, Schallplatten und dergleichen. Unterm Strich kann man damit eigentlich nichts anfangen. Die Gegenstände und Waren kriegen jedoch eine Art Eigenleben im Film. Ich gehöre zur ersten Generation, die zu viel davon hat: Wir haben zu viel Ware, zu viele Holzkommoden, Truhen oder Schränke. Früher waren das Werte, heute ist es Ikea.»

Das ist Ausdruck einer Zeit, einer Entwicklung.
Dubini: «Solche Sachen schmeisst man heute weg. Diese fundamentalen Unterschiede zwischen gestern und heute versucht der Film darzustellen. Es gibt diese bäuerliche, christliche, auch bürgerliche Tradition seit dem Mittelalter. Das ändert sich schlagartig in den Sechzigerjahren. Ein epochaler Einschnitt. Die Industrialisierung erzeugt ein Übermass an Waren - Autos, Fernseher, Fernreisen. Der ganze Konsumismus überrollt alles und walzt alles platt. Das ist der Ansatz unseres Films.»

Die Arbeit am Film nahm Jahre in Anspruch. Wann geschah der Brand?
Dubini: «Der war 2001. Abgerissen wurde das Haus im Sommer 2009. Das ist auch im Film der Schlusspunkt.»

Nun ist der Film weit mehr als eine Dorf- und Familiengeschichte. Es gibt verschiedene Ebenen: eine persönliche, eine soziale, eine historische, eine übergeordnete, sozusagen existenzielle.
Dubini: «Die erste Ebene ist für mich die persönliche - mein Kommentar, meine Gefühle. Die zweite betrifft meine Familie: Wie reagieren mein Vater, meine Brüder, was macht meine Mutter? Dazu gehören natürlich auch die Geschichten der Tanten und Onkel. Die dritte Ebene wird eingeleitet durch die Texte von Barbara Marx, meiner Frau. Dann wird die private zur Kulturgeschichte. Parallel haben wir auch eine historische Ebene angesprochen, sozusagen eine Ebene dahinter.»

Der Film schneidet auch das Thema Migration und Fremdenfeindlichkeit an.
Fosco Dubini: «Ja, wie funktioniert in der Schweiz Ausgrenzung und Integration? Das spricht der Film an. Jede Gesellschaft funktioniert nach Ausgrenzung und Vereinnahmung.»

Die Geschichten, Bilder bieten Chancen zur Identität.
Dubini: «Im Prinzip finde ich es ja schön, wenn man seinen eigenen Film sieht. Die Familiengeschichte löst etwas aus, weckt eigene Erinnerungen. Die Leute erinnern sich, beginnen zu erzählen.»

Nun hat der Filmtitel «Die grosse Erbschaft» eine doppelte Bedeutung gewonnen - durch den Tod Ihres Bruders Donatello im März. Der Film wurde zum Vermächtnis. Wie gehen Sie damit um?
Dubini: «Im Nachhinein würde man das so sagen. Aber ich bin nicht davon ausgegangen, dass er nach einer Operation an dieser Krankheit, an Leberkrebs, stirbt. Der Film ist nicht unter dieser Perspektive entstanden. Ich kann es immer noch nicht so richtig glauben und verarbeiten, denn Donatello ist im Film präsent und wirkt jetzt beinahe wie ein Geist. Zuerst denkt man bei einer grossen Erbschaft an einen reichen Onkel aus Amerika oder Ähnliches, an Geld, eine Erbschaft in Form eines Hauses. Doch dann löst sich das Materielle immer mehr auf und das Ideelle nimmt zu.»

Wie hoch war das Budget?
Dubini: «120 000 Franken.»

Der Dokumentarfilm mit Ihren Brüdern Donatella und Cardo läuft in den Deutschschweizer Kinos. Und im Tessin?
Fosco Dubini: «Wir haben den Film in Locarno, Lugano und Bellinzona aufgeführt.»

Sie arbeiten bereits an einem neuen Film, einem Spielfilm, haben in der Schweiz und in der Ukraine gedreht. Worum geht`s?
Dubini: «Es handelt sich um einen Science-Fiction-Film, um Klimaveränderung im Jahr 2023, er hat auch mit dem neuen Gotthardtunnel zu tun. Eine gute Bekannte spielt wieder die Hauptrolle, Jeanette Hain, die bereits vor zehn Jahren bei unserem Film `Die Reise nach Kafiristan` mitwirkte. Wir haben ihr den Film `Die innere Zone` eigentlich auf den Leib geschrieben. Wir haben unter anderem in einem Kanalsystem und Atombunker der Ukraine gedreht. Es dürfte eine Art Reise zum Mittelpunkt der Erde werden. Im Februar gibt`s noch einen Nachdreh über fünf Tage.

Was kostet Ihr Science-Fiction-Film?
Dubini: «Etwa eine Million Franken.»

Also weniger als ein Schweizer «Tatort»?
Dubini: «Das entspricht etwa der Hälfte eines «Tatorts» - das sag ich meinen Schauspielern auch immer.»

Wie beurteilen Sie die Schweizer Filmförderung? Wird es besser mit Ivo Kummer?
Fosco Dubini: «Es kann nur besser werden. Filmchef-Vorgänger Nicolas Bideau hatte geglaubt, man könne Erfolge planen. Doch das geht einfach nicht. Jetzt muss Ivo Kummer zuerst mal aufräumen und die Förderung so aufgleisen, dass sie halbwegs funktioniert.»