Um einen aufschlussreichen Fall schweizerischer Medienpraxis ging es im zweiten Teil der diesjährigen Herzberg-Tagung in Zürich. Der freie Journalist Oliver Fahrni rekapitulierte und bilanzierte mit Nationalrat und Unia-Zentralsekretär André Daguet den Fall Boillat. Boillat in Reconvilier im Berner Jura steht für einen der längsten und härtesten Streiks, den die friedensverwöhnte Schweiz seit Jahrzehnten erlebte. Die Belegschaft der metallverarbeitenden Fabrik legte dort für mehr als drei Wochen die Arbeit nieder und hielt das Areal besetzt. Sie forderte mehr Lohn, kürzere Arbeitszeiten und eine neue industrielle Strategie im «Herzstück des Swissmetall-Konzerns». Die Beschäftigten «hatten einigen Grund zur Annahme, dass der CEO ihre Fabrik demontieren und den Konzern verkaufen wollte». Die Gewerkschaft Unia, so André Daguet, «unterstützte den Streik, den sie nicht organisiert hatte».
Nachdem die Fronten festgefahren waren, der Firmenboss sich in virtuoser Desinformation übte, die Gewerkschaft ihren Erklärungsnotstand pflegte, setzte schliesslich der Bundesrat den Vermittler Rolf Bloch ein, der wiederum einen ausgewiesenen industriellen Experten mit der Prüfung der Konzerninternas beauftragte. Als dieser Experte, der als Einziger Zugang zu sämtlichen Vertraulichkeiten hatte, seinen Bericht vorlegte, war das mediale Interesse verschwindend. «Die alltägliche Berichterstattung über die Vorgänge an der Oberfläche», so Oliver Fahrni, «war ganz ordentlich». Durch besondere Neugier hervorgetan hätten sich jedoch nur ein Sonderkorrespondent des «Tages-Anzeigers» wie das Regionalblatt «Journal de Jura». Die Wirtschaftsredaktionen der «SonntagsZeitung» und «Bilanz» wie auch die ganze vorgebliche Fach-Journalie wiederholte lieber ihre neoliberalen Vorurteile und Gemeinplätze statt den Experten nach soliden Analysen und Hintergrundeinschätzungen auszuquetschen. Für den Beobachter Fahrni und den beteiligten Gewerkschaftssekretär Daguet ist das Fazit ernüchternd: «Im Kern hat das journalistische Versagen im Fall Boillat eine gravierende Ursache. Ganz offensichtlich hat sich die Mehrheit der Medienleute dem neoliberalen Mainstream unterworfen. Clichées ersetzten Neugierde, Recherche und Analyse. Eine Recherche am Ort, Gespräche mit den Akteuren hätten diese Clichées schnell erodiert.»
Eine Lücke in dieser medialen Ignoranz schloss ein neues Medium. Ein junger Blogger, genannt «Karl», ein junger Politikwissenschaftler und Ökonom, «holte sich schnell eine hohe Legitimität und wurde zu einer wesentlichen Informationsquelle für Journalisten». Für den Gewerkschaftsführer Daguet ergeben sich aus der Boillat-Lektion wichtige Einsichten: «Wir müssen weiter analysieren und lernen, wie wir künftig mit solchen Konflikten umgehen.» Welche üble Rolle im Hintergrund dabei die Drahtzieher von Hedgefonds spielten, ist bis heute von den Wirtschaftsredaktionen weder recherchiert noch aufgeklärt worden. Neue Einsichten verspricht das demnächst erscheinende Buch von Oliver Fahrni «Die Fabrik sind wir! Wie der Streik von Reconvilier die Schweiz veränderte» (Rotpunktverlag, Zürich). - Siehe auch: «Kritik im Journalismus ist nicht alles - aber ohne Kritik ist alles nichts»
Donnerstag
09.11.2006